HANS VEIGL

 

Der Anfang von Allem

Von Schmetterlingen, Kabarettisten, Theater und anderen Passionen  

 

Going back in the mists of time, dieser Satz im verpflichtenden Englischlesebuch für Oberstufen mit dem Verweis auf die Geschehnisse des 8. Jahrhunderts samt dem Unhold Grendel aus dem Stamme Kains, dessen mörderischer Mutter und dem rächenden Helden Beowulf, wurde damals von uns Schülern begierig aufgegriffen und jeder noch zu schreibender Aufsatz, etwa über ein jüngst zurückliegendes Ferienerlebnis oder das Thema „Was der Tag mir zuträgt“, sollten fortan allein mit diesen bedeutungsschweren Worten eröffnet werden.

Going back in the mists of time, mit diesem Satz möge auch die folgende Darstellung anheben, um in der Art bejahrter Leute mit erhobenem Zeigefinger müßig herumstehende Jüngere mahnend darauf verweisen, dass die von uns durchlebten siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gegen Monatsende hin keinesfalls allein von purer Heiterkeit und stetem Frohleben getragen waren.

Kehren wir also noch einmal zurück in jene nebelverhangenen Zeiten: Ursprünglich sollte die sich Anfang der siebziger Jahre formierende Musikgruppe „Zitronenfalter“ genannt werden, ein beziehungsreicher Witz, der vorzeitig verblühte, zumal nur die wenigsten damals hierzulande die Frankfurter Satirezeitschrift „Pardon“ lasen. Kurzentschlossen wählte man also, vermutlich aus Ratlosigkeit und im sorglosen Übermut der rastlosen Jugend, den Namen „Schmetterlinge“.
Die Gruppe, bald bekannt durch ihren stimmigen Harmoniegesang, bestehend aus Beatrix Neundlinger, Georg Herrnstadt, Erich Meixner, Herbert Tampier, Willi Resetarits, dem Manager Günther Grosslercher und anfangs zudem Pippa Tinsobin, wandte sich vom eben allerorten modisch gewordenen Austropop ab und begann gemeinsam mit ihrem Textautor Heinz R. Unger Lieder mit kritisch-politischen Inhalten zu erarbeiten.
Es war Heinz, der mich eines Abends in schier uneigennütziger Absicht aus dem gemütlichen Lokal namens „Hermi“ zerrte und in den „Atlantis“-Keller nahe dem Naschmarkt brachte, wo seine neuen Texte unter dem Titel „Lieder fürs Leben“ in musikalischer Form soeben von den „Schmetterlingen“ dargeboten wurden.
Im Mai 1975 war auch Lukas Resetarits an diesem Ort erstmals mit einer erfolgreich aufgenommenen heiteren Einlage aufgefallen. Von ihm wussten wir lediglich, dass er gleichsam aus dem Stegreif heraus Pointen in jeder Lebenslage zu schleudern verstand, trotz seiner vis comica der Bruder von Willi war und dieser ihn hartnäckig Erich nannte.
Im Herbst nämlichen annus mirabilis fand zudem eine Gemeinschaftsproduktion im Rahmen des steirischen herbstes der „Schmetterlinge“ mit dem im Vorjahr von Wolfgang Teuschl, Erich Bernhardt, Erwin Steinhauer, Erich Demmer und Alfred Rubatschek gegründeten „Kabarett Keif“ statt, in dem nunmehr auch Lukas Resetarits mitwirkte, und wie sich Herbert Tampier erinnerte, dessen Bühnenangebot selbst beim ORF auf Interesse stieß. In der Folge wurden demzufolge zahlreiche Auftritte im Rahmen der Jugendredaktion gestaltet, in der ebenso der spätere Lukas-Manager Wolfgang Preißl mitarbeitete, zensurbedingt jedoch nicht alle gesendet.

Kennengelernt haben wir einander, soweit ich mich heute noch erinnern kann, bereits an der engumlagerten Theke des eben genannten Lokals „Hermi“ in der innerstädtischen Kumpfgasse. Hier traf man einander allabendlich zu handfesten Diskussionen in einer Runde, die neben Lukas Resetarits auch den Autor Heinz R. Unger, den stets präsenten Schauspieler Gunther W. Lämmert (von Übelwollenden naturgemäß „Gunther B.“ genannt), mitunter den Regisseur Dieter Haspel, der damals das Ensembletheater im Keller des Konzerthauses leitete, oder den allseits beliebten Oberkellner Otto mit einschloss. Es waren Abende, an denen weder Humor, Weltanschauliches noch Bier zu kurz kamen und es war dies eine kleine Welt, in der ein wenig auch die große kritisch auf die Probe gestellt und hinterfragt werden wollte.

Nach zweijähriger Gruppenarbeit fand im Sommer 1976 anlässlich der „Wiener Festwochen“ die Erstaufführung des politischen Oratoriums der „Schmetterlinge“, die „Proletenpassion“ statt. Dieter Haspel führte Regie und Lukas Resetarits, Erwin Steinhauer und zahlreiche andere Gäste traten in Haupt- und Nebenrollen oder als Randfiguren auf. Lukas etwa repräsentierte unter anderem Hitler, aber auch den Ritter Götz von Berlichingen, dessen Ausdrucksweise ihm künftighin stilbildend bleiben sollte. Gespielt wurde in der „Arena“. Diese hatte sich nach ihrer Besetzung am 27. Juni zu einem selbstverwalteten Jugendzentrum entwickelt, wo 101 Tage hindurch neben den „Schmetterlingen“ und „Keif“ auch zahlreiche andere alternative Theater-, Tanz- und Musikgruppen gastierten. Das Abschiedsfest erfolgte am 9. Oktober im ehemaligen Inlandsschlachthof, zwei Tage spätere bereits beseitigten Bulldozer im Auftrag der Gemeinde Wien und im Interesse eines Textilunternehmers die verbliebenen Hallen.

Im Jahr 1977 fand sich Erwin Steinhauer auf den Brettern des „Simpl“ und Lukas Resetarits trat am 26. Oktober im Konzerthauskeller erstmals mit einem abendfüllenden Kabarettprogramm, genannt „Rechts Mitte Links“, auf, am Klavier begleitet von Peter Oswald, dem späteren Intendanten des steirischen herbstes. Das Programm, dem bis in die Gegenwart hinein zahlreiche weitere Abende folgen sollten, wurde ein überwältigender Erfolg. Es war im Subtext Aufklärung auf Wienerisch und zugleich, wie vieles in der damaligen Zeit, kritisch links von der mächtigen und satt bürgerlich gewordenen Sozialdemokratie angesiedelt. Die Anfangsauftritte waren übrigens allein schon durch die eigenwillige Sakko-Kollektion des Ein-Mann-Ensembles sehenswert, von der man sich im Nachhinein fragen mochte, ob es diese in seiner Größe auch gegeben hätte.

Das Jahr 1978 zog ins Land und mit ihm auch unerbittlich die Abhaltung des Eurovision Song Contests, bei dem die „Schmetterlinge“, unterstützt vom Textautor Lukas Resetarits, mit dem Beitrag „Boom Boom Boomerang“ antraten, ein Song, der zuvor bereits landauf landab in Ö3 und den Kaufhäusern der Mariahilfer Straße gespielt worden war und von dem die Veranstalter befürchteten, dass er allzu kritische Töne gegenüber der Schlagerindustrie beinhalten könnte. Nun wäre es an dieser Stelle ein Leichtes, nach dem Endergebnis anzügliche Bemerkungen Richtung Text und Schlagertitel zu äußern. Heinz R. Unger und der Schreiber dieser Zeilen, in jenen Tagen gemeinsam unabkömmlich am Südpeloponnes unterwegs, versuchten im Nachhinein aufrichtig Trost und Rat angesichts des vorletzten Platzes zu spenden und telegraphierten diesbezüglich aufmunternd: „Schweden waren doch schlechter gewesen!“

Die Festwochenproduktion 1979 hieß „Die fröhliche Apokalypse“, deren Text gemeinsam von Susanne Abbrederis und mir geschrieben und von uns beiden als Dramaturgen begleitet wurde, um solcherart generös der jungen Kritikerin Sigrid Löffler vielerlei Möglichkeiten einzuräumen, pointierte Kritik an jenem Versuch einer politisch anzüglichen Staatsoperettenpersiflage, angesiedelt zwischen Karl Kraus, Hermann Broch, der Stegreifbühnentradition sowie Johann Strauß dem Jüngeren, zu üben. Lukas Resetarits gab im Stück übrigens den Herrn Novak, dem „Herr Strudl“ aus der „Kronen-Zeitung“ als Kommentator des täglichen Geschehens nachempfunden, und wurde solcherart von einem ausgestopften Dackel auf Rädern sekundiert. Stunden hindurch am linken Bühnenrand stehend, sinnierte er schweigend, den räudigen Vierbeiner streng an der Leine haltend, über das Stück, in das er da hineingeraten war. Rückblickend war es eine an sich interessante Rolle, allein der von mir versprochene Text sollte noch lange seiner Endfertigung entgegenblicken.
Die Leitung der Produktion lag in den Händen von Dieter Haspel, der auch zahlreiche Schauspieler seines Ensembletheaters verpflichtet hatte, wie etwa Christine Jirku, Gundula König oder Michaela Scheday; Aret Güzel spielte einen alten Juden, Robert Hunger-Bühler ausgerechnet einen Bürger, Alfred Rubatschek einen, wie man damals so sagte, Neger, der greise Alfred Solm übernahm die Rolle eines älteren Mannes und Gunther W. Lämmert widmete seine Kunstfertigkeit der Darstellung von allerlei Lehrern, Dompteuren und zukunftsweisenden Postkartenmalern. Die Bühne schuf Georg Resetschnig und gespielt wurde ab 11. Juni 1979 im Theater im Zelt im Wiener Prater.

Im Mai 1980 stand die Uraufführung der großen Jura Soyfer-Hommage der „Schmetterlinge“ mit dem Titel „Verdrängte Jahre“ im Wiener Schauspielhaus auf dem Programm. Das dargebotene Spiel basierte einerseits auf die Dramatisierung des Romanfragments „So starb eine Partei“ sowie zahlreicher Liedtexte, entnommen dem soeben von Horst Jarka herausgegebenen Gesamtwerk. Die politische Lyrik Soyfers bot dabei eine eindrucksvolle Illustration zur Romanerzählung, dessen Dramatisierung wie die der Tourneefassung entgegen anderen Behauptungen hauptsächlich meinerseits vorgenommen wurde.
Peter Gruber führte Regie, die „Schmetterlinge“ lieferten die Musik und spielten auch mit. Das Bühnenbild stammte erneut von Georg M. Resetschnig und unter den Mitwirkenden fanden sich Lukas Resetarits, Gertrud Roll, Maria Bill, Peter Hey, Bertram Mödlagl, der damalige „Kulisse“-Mitbetreiber Fritz Aumayr und zahlreiche andere.
Die Proben fanden im staubigen Ziegelkeller des künftigen Kabarettlokals in der Rosensteingasse statt und die notwendigen Pausen verbrachten Lukas und ich überwiegend in einem naheliegenden, etwas eigenwillig adaptieren ehemaligen Wiener Vorstadtgasthaus, das sonderbarerweise ebenfalls eine Art Bühnenatmosphäre zu verströmen vermochte, und dies im Sinne von Eugène Ionescos absurder Anti-Theaterkonzeption: Stets die gleichen älteren Männer standen an dem der Sonne verwehrten Auftrittsort schier unbeweglich vor aufgestellten Bierfässern, sprachen, wie wir bald herausfanden, immer die gleichen lakonischen Texte und tranken stets die gleichen Getränke.
Der Wirt, dessen rumänischer Herkunft der Neuausstattung des Lokals zugutegekommen war, spielte allein zum eigenen Vergnügen auf einem einstmals der Heimat entlehnten Grammophon, unter häufigem Verweis auf seine am Konservatorium studierende Tochter, fortwährend die einzige in seinem Besitz befindliche klassische Schellackplatte, deren unüberhörbarer Sprung mitten durch die Arie hindurch ihn veranlasste, mit dem Tonarm in steter Wiederkehr die Anfangstöne der Ouvertüre zu suchen, im Bemühen, eine anhaltende harmonischen Stimmung aufrechterhalten zu können. Selbstverständlich verblieben wir beide die gesamte Probezeit hindurch in diesem künstlerischen Milieu befangen und natürlich wandten sich nach ihrem Eintritt mit harscher Entschiedenheit sofort zwei Müllmänner an uns als einzige Lebewesen im Raum, indem sie ihre orangefarbenen muskulösen Oberkörper gefährlich nahe ins Spiel brachten und schließlich mit unsicherer Flüsterstimme fragten: „Host a Capta, Oida?“ Nicht ganz zufällig also wurde Lukas, wie mir scheint, gerade an diesem Ort und zu dieser Zeit von Helmut Zenker und Peter Patzak als neuer „Kottan“-Darsteller entdeckt.

Eines Tages stand eine Szene mit dem jungen Liebespaar Edi und Fritzi auf dem Probeplan. Da Maria Bill als Fritzi verhindert war, musste stattdessen der Dramaturg selbst einspringen. Und das war ich, der die Rolle eigentlich nur markieren sollte. Dann kam der Satz von Lukas/Edi an Fritzi gerichtet daher: „Wannst damals mei Freundin gewesen wärst, hätt i dir die rosa Kombinesch kauft, weißt eh …“ Die darauffolgende tumultartige Situation möchte man dem Leser ersparen, Herbert hat sie ohnedies vor Jahren, unnötig ausführlich wie mir scheint, unter der Kapitelüberschrift „Der Lachkrampf“ beschrieben. (Vgl. Herbert Tampier, Geschichten vom Lukas. In: Iris Fink u. Hans Veigl (Hrsg.), Lukas Resetarits. „Es ist bitte Folgendes,…“ Wien 2007, S. 41–43. )

Zwischendurch erfolgten immer wieder Tourneen der „Schmetterlinge“, die zumeist in die BRD und nach Westberlin führten. Auch gelangten wir auf Einladung in den Osten der Stadt. Beim dortigen Rundfunk sollte die „Proletenpassion“ erstmals dem interessierten Volke vorgeführt werden. Zuvor noch, um sich gleichsam warm zu spielen, brachte die Gruppe Lieder der 1927 hier in Berlin gegründeten „Comedian Harmonists“ zum Vortrag, wobei man sich bald des Eindrucks nicht erwehren konnte, letztere hätten für weitaus mehr Furore unter den DDR-Rundfunktechnikern und etwaigen Hörern gesorgt als jegliche Leidensgeschichte des Proletariats.

Man kaufte sich unterwegs Hemden und Wäsche, fühlte sich wie Jack Kerouac in „On the road“ und genoss das Leben in fremden Landen. Und dort, wo an jedem Auftrittsort damals eine linke Heinrich Heine-Buchhandlung stand, findet man heute Aldi. So deckten wir uns mit Büchern und anderen Notwendigkeiten ein, alle in der Gruppe, außer Erich, denn der war keiner, der aus diesem Anlass mit Geld um sich schmiss. Er war es vielmehr, der uns die Reisezeit mit einer ihm eigenen ruralen Hermeneutik zu verkürzen wusste. Immerfort bot er spannende Einblicke in die knorrige, holzschnittartige, nachahmenswerte bäuerliche Lebenswelt voll liebgewonnener Inzucht und abwegigen Brauchtümern. Wobei er bei derlei Anlässen niemals zu erinnern vergaß, die von ihm nachgezeichnete durchgehende Waschverweigerung der dortigen Inwohner lobend hervorzuheben. „Oder kennst du ein Tier, das sich in freier Wildbahn wäscht“, überraschte er mich eines frühen Morgens mit seinem ausgeprägten Lieblingsthema. „Die Fische schon“, versuchte ich bei dieser Gelegenheit einfühlsam entgegenzuhalten, kam jedoch mit derlei laienhafter Einstellung weniger gut weg.

So folgten eine Tournee und eine Stadt der anderen. Unvergessen der Ausblick an einem verregneten Herbsttag von Hotelzimmerfenster aus auf den Gerätepark der Firma Mengele in Augsburg, die jegliches Privatleben ausschließenden Aufenthalte bei Hausbesetzern oder die zahlreichen Pensionen der Umgebung des oberen Kuhdammes, in deren Räumen sich noch Reste der Tristesse der zwanziger Jahre mühelos wiederfanden.

Es waren auch Reisen in den deutschen Herbst gewesen. Eines Abends wurden wir von schwer bewaffneten Polizisten umstellt und fanden uns, von geladenen Maschinenpistolen bedroht, mit gespreizten Beinen und den Händen an der Hausmauer abgestützt wieder. Derlei Aufmerksamkeiten, die sich vor allem an Äußerlichkeiten orientierten, sollten sich mehrfach wiederholen. Wachsame Nachbarn hatten damals die Exekutive informiert, sei es, weil sie durch fremdländische Menschen und Kennzeichen misstrauisch geworden waren, sei es, weil Reminiszenzen aus dem letzten Kärnten-Urlaub noch nachwirkten.
Vor einer besetzten Villa in einem Ort namens Oberursel, in der wir übernachtet hatten, gingen Herbert und ich, (damals noch Raucher, der Rest der Gruppe dilettierte auf unsere Kosten), frühmorgens auf und ab, als plötzlich gut getarnte Männer aus dem nahen Park hervorkrochen und uns beiden ein wenig enttäuscht, wie es schien, in übermäßig lautstarkem Tonfall kundtaten, man hätte diesen Ort seit Monaten, was sagt man, Jahren, dienstlich observiert, ehe zwei müßig flanierende Tabakkonsumenten mit ihrem auffälligen Auftreten die weitläufig wie sorgfältig geplante Aktion zum Abbruch gezwungen hätten.

Und was die RAF nicht vermocht hatte, bot uns nach der Vorstellung die bereits ritualisierte Diskussionsrunde: Beklommenheit und Irritation. Dies vor allem mit jenen Beiträgen, die zumeist das existentielle Problem der europäischen Raketenlücke betrafen. Eine breit gestreute Koalition aus Maoisten, K-Gruppen, Nato-, Pentagon-, Franz Josef Strauß- und Helmut Schmidt-Anhängern war dabei tonangebend, deren Abkömmlinge sich verblüffend kenntnisreich Strategie, Bauweise, Reichweite und Einsatzmöglichkeiten der dringend in Europa benötigten amerikanischer Mittelstreckenraketen angeeignet hatten, wo sie doch zuvor gerade noch über den Unterschied zwischen einer MiG 21 und dem Modell MiG 23 zu streiten imstande waren. (Die Differenz lautete damals: Zwei).

Es war auch die Zeit der Berufsverbote für Linke im Öffentlichen Dienst. Während einer Ersten Mai Feier in Berlin sollte es die „Proletenpassion“ sein, die inmitten zahlreicher Störaktionen linker jugendlicher Demonstranten aufspielte. Zuvor hatten die Veranstalter, auf ihr geringes Budget und die Raumnot der Stadt verweisend, uns in einer eben fertiggestellten, der feierlichen Eröffnung harrenden und in frischem Grün erstrahlenden Jugendstrafanstalt untergebracht, wo wir unsere Zelte gleichsam als erste in deren Zellen aufschlagen durften. Da die Vorfälle beim sozialdemokratischen Mai-Umzug eskaliert waren, wurden unsere Veranstalter, die linksgerichtete Gewerkschaft ‚Erziehung und Wissenschaft‘, unverzüglich aus dem DGB ausgeschlossenen, erhielten zum Teil Berufsverbot, blieben jedoch anscheinend von einem anschließenden Aufenthalt in den frisch gefärbten Zellen vorerst ausgesperrt.

Wie andernorts bereits beschrieben, war vor Neujahr herum wieder in Wien der Weg zu einem neuen Programm bereits mit guten Vorsätzen gepflastert. Im ausgesprochen spätsommerlichen September standen dann erstmals problemorientierte Fachgespräche und kritische Programmdiskussionen im Mittelpunkt der Badeanstalt, wie: Warum nicht wieder die „Lieder fürs Leben“ spielen? oder Wie basteln wir ein (diesmal) unsinkbares Surfbrett?
Wenige Wochen später große Festtagsstimmung im Lokal: Unser Textdichter kehrt erholt und abgebrannt aus seinem Halbjahresurlaub zurück. Und eine außergewöhnlich schöpferische Phase sollte beginnen: „Ich denke da an einen bühnenwirksamen Sketch, zwei von uns, etwa ich und irgendein anderer, treten auf, möglicherweise von links und rechts, treffen einander also in der Bühnenmitte – freilich fehlen da noch die Kostüme, die Pointen und der Dialog … Die Musik könnte auch einmal mitreißender …Mick Jagger ist auch nicht jünger als du … Nein, Frauenrollen spiele ich nicht! ...Kein Bauernbursche würde jemals in seinem Leben … und die Texte sollten diesmal verständlich … Das ist das Schlagzeug, das überdeckt alles“, grollte da unser Triangelvirtuose. Und bald schwirrten im Vorstadtlokal schwer deutbare Begriffe wie „Regietheater“, „Stanislawski“, „Expressionismus“ oder „Kostümverleih Lambert Hofer jun.“ durch den Raum. „Matrosenanzüge hatten wir doch bereits in den beiden vorigen Programmen!“, klagte der Jugendliche Naive. „Wer besuchte die schon“, bemerkte unser Tourneemanager einlenkend, und versöhnt wandte sich die Runde erneut nautischen Problemen zu.
Im Oktober schlug das Wetter um und ein gewisser Ernst machte sich bei allen unliebsam bemerkbar. „Fällt eigentlich jemandem ein Titel ein?“, fragte Ernst eines Abends in der warmen Wirtsstube urplötzlich und sorgte damit für verständliche Irritation im Navigatorenkollektiv „Fünf vor Zwölf“ schlug der Wirt vor. „Eine letzte Runde“ riefen da plötzlich alle ziemlich energisch. „Die letzte Welt“, flüsterte unser Textdichter verträumt. Naja, und dabei blieb es dann auch.

Die Proben und die anschließende Premiere fanden im November 1981 im Rahmen der Ruhrfestspiele Recklinghausen inmitten einer stillgelegten Industrielandschaft statt. Bereits bei unserer Ankunft waren wir mit dem revolutionären Potential der Gegend konfrontiert worden, in Gestalt eines emphatischen Jugendfunktionärs mit rotem Halstuch und geballter Faust am Podium, der die sofortige Abschaffung des Kapitalismus auf revolutionärem Wege umgehend einforderte. Der kompromisslose Jungrevolutionär hieß, so wurde uns glaubwürdig versichert, Gerhard Schröder. Die rund vierstündige Erstaufführung im Großen Saal des Festspielhauses sollte allgemein bejubelt werden, vor allem deren Ende, danach sahen wir uns abseits vom gewohnten Publikum in den Wandelgängen des Festspielhauses zunehmend mit Smoking tragenden Vertretern der Schwerindustrie samt dazu passendem Damenflor konfrontiert, die sich gleichsam als billige Draufgabe des Abends an unserem Wienerischen Idiom zu delektieren begannen. Bald auch gesellte sich jener glücklose Regisseur zu unserer ausgelassenen Runde, der lediglich im Kleinen Saal und kleinem Budget vermutlich ein Thomas Bernhard-Drama zu inszenieren hatte. Auch ihm kamen unsere Sprachkünste später zugute und sein Name war, wenn ich nicht irre, Peymann, ja doch: Claus Peymann.

Danach, im Februar und März 1982 wurde von der DGB-Gewerkschaftsjugend mit der „Letzten Welt“ eine Tournee von Duisburg über Münster bis Saarbrücken und andere Städten organisiert. Zurückgekehrt arbeiteten wir im Schauspielhaus in der Porzellangasse am Theaterprojekt „Die Geisel“ von Brendan Behan. Ein irisches Stück, dessen Übersetzung Heinrich Bölls die dortige Dramaturgin und meine Person voll jugendlicher Arroganz verwarfen und eine neue schufen, die vor allem die zahlreichen Liedtexte, vertont von den „Schmetterlingen“, hervorhoben. Von ihnen stammte damals auch die Begleitmusik meiner sechsteiligen Sendereihe in Ö1 über die Dritte Welt, von Peter Gruber mit unverwechselbarer Stimme vorgetragen. Ja, es war eine kleine Welt, in der wir uns bewegten, in der Solidarität allerdings mitunter recht großgeschrieben wurde.

Da es nun langsam too late to die young wurde, begann ich ab 1983 neben Verlagslektorat und Antiquariatsarbeit mit der Herausgabe klassischer Texte der Kabarettliteratur sowie Materialien in der Absicht zu sammeln, einen kritischen Blick auf die lange Geschichte und Tradition der Wiener Kleinkunst zu werfen. Doch dies wäre bereits eine andere lange Geschichte.

 

Manchmal freilich scheint mir heute inmitten einer nebelverhangenen, postfaktischen gesellschaftlichen Umgebung die Ära des Unholds Grendel und seiner kriminellen Mutter gar nicht so fern. Was aktuell fehlt, ist ein Recke wie Beowulf, der den Drachen tötet und als Repräsentant des Aufgeklärten, Reflektierenden und Gerechten in die Geschichte eingeht. So ziehen wir also schlussendlich abwartend den Vorhang zu und verbleiben in düsterer Ungewissheit.

© Hans Veigl, Der Anfang von Allem.
Von Schmetterlingen, Kabarettisten, Theater und anderen Passionen.
In: Oesterreichisches Kabarettarchiv online, 2021.

Foto: © Ursula Kothgasser

Mag. Dr. Hans Veigl (* 1948 in Hainburg/Donau),  arbeitete als Redakteur, Verlagslektor, Theaterdramaturg, Universitätslehrbeauftragter und Bühnenbeleuchter; seit 1984 freiberuflicher Schriftsteller; Mitglied der GAV, ehrenamtlicher Vorsitzender des Vereins zur Förderung des Österreichischen Kabarettarchivs.
Publikationen vor allem zu den Themen Populärkultur, Alltags-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte.

 

Veröffentlicht am: 15. Jänner 2021