HELMUT NEUNDLINGER

 

Er nicht als er..

Anmerkungen zum Verhältnis von Rolle und Person bei Helmut Qualtinger und Josef Hader

 

Eine Bühne ist eine Bühne ist eine Bühne. Wer sich dort blicken lässt, ist nicht mehr einfach nur: er/sie selbst. Das Bühnenspiel konstituiert eine Grenze zwischen Rolle und Person, die allerdings im Kabarett fließender verläuft als in klassischen Theaterformen. Der Name ist oft nicht nur Programm, sondern wird auf eine Weise mit dem Träger identifiziert, die ihn zu einer Figur im doppelten Sinn macht. Es ist, soweit ich sehe, ein spezifisch männliches Phänomen, in dem sich ein Habitus zur Typus-Identifikation ausprägt: Roland Düringer als Brachial-Prolet, der sich zum parteigründenden Wutbürger hochschaukelt; Gunkl alias Günther Paal, der den sprachschaumschlagenden Alltagsphilosophen auch als Radiomoderator nicht mehr ablegen kann; Alf Poier, der den klassenkasperlhaften Anarcho-Klamauk auf die Weltbühne des Songcontests und anschließend zurück in die obersteirischen Wirtshaushinterzimmer brachte usw.

Genetisch könnte man es an Helmut Qualtinger exemplifizieren: Wie in kaum einem vergleichbaren Fall wurde ihm die Rolle zur Person und umgekehrt. Er wurde mit dem, was er spielend von sich gab, auf eine Weise identifiziert, die seinen Vornamen zum Verschwinden brachte und den Nachnamen zum Gesamtkunstwerk erhob: der Qualtinger. Der einfache Artikel erlangt hier deiktische Qualität, indem er auf eine Art von abwesender Anwesenheit zu verweisen scheint: der da – seine eigene Manifestation, um nicht zu sagen: sein eigenes Klischee.
In dieser Personifizierung erfüllte Qualtinger im Nachkriegsösterreich eine paradoxe identitätspolitische Funktion: Ausgerechnet in der zur Kenntlichkeit überzeichneten Fratze des „Herrn Karl“ (1961) schuf er, in Abgrenzung zum „Piefke“, den Österreicher schlechthin mit all seinem menschenverachtenden Opportunismus. „Der Herr Karl hat nicht bloß eine Identität. Er ist nicht bloß er selbst. Er ist auch ein Typus“, schreibt Franz Schuh über die Figur. Physiognomie und Habitus taten das Ihre: Den Herrn wurde Qualtinger nicht mehr los, er machte ihn quasi zeit-los. Eine Zeitlang musste er vor ihm fliehen wie vor einem Fluch, ausgerechnet nach „Piefke“-Land (Hamburg), um nicht bei jedem Schritt gemessen zu werden an dem realitätsverschlingenden Unmaß seiner Kunstfigur.
Qualtinger geriet sich selbst zum Prototyp jenes Spiels mit der Grenze, an dessen Ende zwischen der Rolle und der Person nicht mehr unterschieden werden kann. Ein Gesamtkünstler war er allemal: als Rezitator, der die Texte von Karl Kraus und Anton Kuh mit derselben Mischung aus Genauigkeit und Wucht deklamierte wie Adolf Hitlers „Mein Kampf“; als Sprechsänger, der den von H. C. Artmann so plastisch nachgedichteten Balladen des François Villon sämtliche Nuancen an Derbheit abrang, die darin verborgen waren; als Film- und Bühnendarsteller im besten Sinne des epischen Theaters, egal ob Franz Kafka, Michael Kehlmann oder Peter Turrini: keine Miene zu viel, aber auch kein Blick zu wenig. Auftrag um Auftrag vielleicht, aber in Summe ein Werk, das nicht nur die Differenz von Rolle und Person, sondern auch den Gegensatz von darstellender Kunst und Autorschaft im weitesten Sinn zum Wanken brachte.

In der Tendenz zum offenen Gesamtkünstler-(um nicht zu sagen: Gesamtberserker-)tum hat Qualtinger gewichtige Vorgänger (Kurt Schwitters), vor allem aber einige Nachfolger, die ihre Namen und Körper auf unterschiedliche Weise zum Einsatz bringen. Zu seinen Erben im engeren Sinn zählt Josef Hader. Hader spielt Hader – immer schon, dieses Spiel jedoch von einem neuralgischen Punkt an („Tausche Witze gegen Geld“, 1987) in sein Gegenteil verkehrend. Kann man sagen: Hader spielt Hader erst ab dem Zeitpunkt, wo er sich vom Genre des klassischen Nummernkabaretts zu verabschieden beginnt? Wer oder was aber hätte davor aus ihm gesprochen? Das Genre selbst? Ein Klischee von einem Kabarettisten? In den Kommentaren zu seinen frühen Programmen, die sich auf dem Homepage-Archiv des Künstlers finden, geht er zum Teil hart mit sich ins Gericht. Diese entwaffnend offene Ehrlichkeit: Ist sie nicht selbst schon wieder Figur, Programm, Koketterie? Hader liest Hader, im Sinne einer kritischen Auto-Philologie des Frühwerks. Überhaupt: Werk – was für eine merkwürdige Kategorie in Bezug auf Kabarett! Bei Hader jedoch meint Werk tatsächlich: Entwicklung, und das wiederum heißt bei ihm eigentlich: Bruch, und zwar mit jenen Erwartungen, die mit dem Kauf einer Eintrittskarte zur Vorstellung eines durchschnittlichen österreichischen Kabarettisten verbunden sind. Am Ende dieser Entwicklung wird sich das Spiel umgedreht haben, und es wird heißen: „Hader spielt Hader“ (seit 1997), weil die Leute erwarten, dass da einer sich selbst spielt und keinen anderen. Nämlich einen österreichischen Kabarettisten namens Josef Hader, der sich selbst bei der Auto-Dekonstruktion beobachtet. Ein Prozess, der in der unheimlichen Forderung „Hader muss weg“ (2004) gipfelt, einem Stück, in dem der Autor sich in mehrere Personen spaltet und sich am Ende virtuos um die Ecke bringt.

Aber spielt Hader nicht auch Hader, wenn er den Detektiv Simon Brenner in den Verfilmungen der Krimis von Wolf Haas verkörpert? Der depressive Minimalismus des verkrachten Ex-Polizisten steht in deutlicher Verbindung zum Repertoire seiner eigenen Bühnenfiguren. Und tut er es letztlich nicht auch als Stefan Zweig in Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“ (2016)? Gerade in der zurückhaltenden Interpretation dieser Rolle scheint es manchmal, als würde Hader vor der verführerischen Möglichkeit, Zweig tatsächlich zu spielen, zurückscheuen. Genau darin aber besteht seine künstlerische Haltung, die seine Darstellung einer derart mit Bedeutung aufgeladenen historischen Persönlichkeit so herausragend macht.

„Er nicht als er“ nannte Elfriede Jelinek ihre Bühnenarbeit zum Schweizer Schriftsteller Robert Walser, der die zweite Hälfte seines Lebens freiwillig in einer Nervenheilanstalt verbrachte. Über diesen Rückzug ist viel spekuliert worden, und man kann darin eine Art von Selbstdistanzierung erahnen, eine ungewöhnliche Antwort auf die Schwierigkeit, man selbst zu sein. Wie man heute weiß, schrieb Walser zumindest in den ersten Jahren seines Aufenthalts mit großer Ausdauer auf winzige Zettel weiter an seinem Werk, das erst Jahrzehnte nach seinem Tod entziffert werden konnte („Aus dem Bleistiftgebiet“). Umgemünzt auf die Bühnenkunst eines Qualtinger oder Hader ließe sich sagen: Das Spiel mit dem Ich ist immer auch eine Flucht nach vorn, die das Ego-Zentrische überwindet, indem es ein komplexes Spiel mit den wechselseitigen Erwartungen in Gang setzt. Hader formuliert es (down to earth) in einem seiner Lieder einmal so: „Ihr wollt’s hören: Bös ist der Haider – ich sag euch nur: So is es leider.“ Damit ist die Tür aufgestoßen zur ständigen Infragestellung dessen, was sich zwischen dem Bühnen-Ich und seinem Publikum ereignet.

© Helmut Neundlinger: Er nicht als er. Anmerkungen zum Verhältnis
von Rolle und Person bei Helmut Qualtinger und Josef Hader

In: Oesterreichisches Kabarettarchiv online, 2021.

Foto: © Klaus Pichler

Helmut Neundlinger, geb. 1973, aufgewachsen in Eferding (OÖ.), lebt seit 1992 in Wien. Studium der Philosophie und Germanistik. Vielfältige Tätigkeiten als Autor, Publizist, Musiker und Wissenschaftler.
Seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften der Donau Uni Krems. Verantwortlich für die Bestände des NÖ Literaturarchivs.
Aktuelle Publikation: Virusalem. Gesang aus dem Bauch des Wals. Gedichte (Müry Salzmann, 2020).

Veröffentlicht am: 2. April 2021